Der Mensch braucht – ohne sich zu sputen –
Zum Kilometer zwölf Minuten.
Die Wanderratte läuft so weit
In ungefähr derselben Zeit.
Da nun genannte Wanderratte
Bis dato stets vier Beine hatte,
Wie schnell läuft da ein Tausendfuß?
Ich weiß es wirklich nicht. Weißt du’s?
Joachim Ringelnatz (1912)
Zu Fuß unterwegs – es gilt die StVO
Wenn man die Stadtflächen der größeren Kommunen, wie etwa Stade, Bremervörde, Buxtehude, Fredenbeck oder Harsefeld, im Elbe-Weser-Dreieck als Kreis stilisierte, dann beträgt die Distanz von einer Peripherie zur entgegengesetzten gerade mal 4 bis 7 km. Das entspräche nach der Ringelnatz‘schem-Tempomessung einer Bewegungsdauer von etwa einer Dreiviertelstunde bis zu anderthalb Stunden. Also etwa zwischen einer Fußballhalbzeit und einem ganzen Fußballspiel (welches manche von uns gerne vom Sofa aus betrachten). Ist nicht so viel. Das vorab.
Sich zu Fuß zu bewegen kann vielerlei Formen annehmen: spazieren, flanieren, schlendern, joggen, wandern – oder auch nur um von einem Ort zum anderen zu gelangen. Manchmal mit Hilfsmitteln wie Rollatoren oder Rollstühlen. Was einer zu Fuß bewegten Person nicht immer bewusst sein mag, ist, dass man wie alle anderen bei der Bewegung durch die Stadt zu einem profan anmutenden Verkehrsteilnehmer wird. Denn auch für den per pedes bewegten Menschen gilt die Straßenverkehrsordnung. Es handelt sich dabei um eine Rechtsvorschrift, die so gar nichts mit den lyrischen Zeilen von Ringelnatz zu tun zu haben scheint.
4 Regeln gelten für Fußgänger:innen
Zum Glück gibt es jedoch nur wenige zu beachtender Regeln für das zu Fuß gehende Volk. Eigentlich sind es nur deren vier:
- Nutze den Gehweg.
- Wo keiner ist, gehe links auf der Fahrbahn.
- Beachte die Ampeln.
- Zebrastreifen gewähren dir jederzeit Vorrang. Was übrigens nicht für Radfahrer:innen gilt!
Recht überschaubar also, dieses Recht. Folglich bietet das zu Fuß gehen reichlich Gelegenheit seinen Gedanken „nachzugehen“ anstatt Regeln zu befolgen. Außerdem lassen sich Details am Wegesrand beobachten wie etwa die sprießende Vegetation in den Fugen zwischen den Gehwegplatten, einer sich mehrenden Anzahl entsorgter hellblauer OP-Masken, die immer noch erstaunliche Menge an weggeschnippten Zigarettenstummeln.
Stade zu Fuß neu entdecken
Und viel mehr noch: Beim zu Fuß gehen zeigt sich der Charakter Deiner Stadt: die Architektur zum Beispiel. Oder auch eine sonst leicht zu übersehende kleine Grünanlage mit einer Parkbank unter einem Baum, welche vielleicht zu einem Lieblingsplatz werden könnte. Und noch viel schöner: Man begegnet anderen Passanten und erlebt einen kurzen Augenkontakt – meistens zwar folgenlos, doch hin und wieder gibt es ein Lächeln oder sogar ein norddeutsches Moin. Einfach so. Man kennt sich nicht, lebt aber wahrscheinlich in der gleichen Kommune, auf jeden Fall auf dem gleichen Planeten. Moin.
Zu Fuß gehen, gesund bleiben
Überdies gibt es auch weitere gute Gründe für den Weg per Fuß. Man sagt, die Anzahl täglicher Schritte lässt sich mit dem gesundheitlichen Zustand in Zusammenhang bringen. Wissenschaftler:innen nennen solche Zusammenhänge Korrelation. Je mehr Bewegung, desto gesünder. Als Ziel werden manchmal 10.000 Schritte am Tag genannt. Zehn Tausend! Das sind so etwa neun Kilometer. Jeden Tag! – Wenn wir die Ringelnatz-Schätzung von zwölf Minuten pro Kilometer annehmen, entspräche das einer Bewegung von etwas weniger als zwei Stunden pro Tag. Also doch nur lediglich zwei Stunden von insgesamt 24 Stunden eines Tages. Das klingt als sei es leistbar, fast schon normal.
Und doch hindert uns es etwas daran, sich diesem Ziel der 10.000 zu nähern. Zu Fuß gehen scheint für viele eine Art Kropf der Bewegung zu sein, also überflüssig. Belege dafür? In Parkhäusern sind die Pkw-Stellplätze nahe dem Ausgang am attraktivsten. Anwohnerparken ist ein Thema, weil der spartanisch anmutende Fußweg zwischen Abstellplatz und Hauseingang möglichst kurz sein sollte.
Fußgänger:innen im Abseits?
Warum nur wird das zu Fuß gehen als Makel empfunden? Okay! Manchmal sind es die vielen Einkaufstüten, die Kiste Wasser, das Six-Pack Bier oder das IKEA-Möbelpaket, welche eine Haltemöglichkeit vor der Haustür als notwendig erachten. Aber ja: Halten geht doch immer. Schnell die Sachen rein in die Wohnung, zurück zum Auto und dann irgendwo einen Parkplatz finden. Im Umkreis von vielleicht fünf Geh-Minuten wird sich schon etwas finden. Fünf Minuten.
Warum nur wird das zu Fuß gehen im alltäglichen Geschäft oftmals als überflüssige Mühe empfunden? Die Antwort lautet vielleicht: Weil unsere Städte größtenteils die zu Fuß Gehenden als abseitige Verkehrsteilnehmer betrachten. Sogenannte Verkehrsadern definieren sich ausschließlich durch Straßen. Und Straßen scheinen schon allein der reservierten Fläche wegen ausschließlich autorisiert für Motorisierte.
Urbaner Verkehr als Abenteuer
Eine Querung der Fahrbahn abseits von fehlenden Zebrastreifen oder Ampeln erweist sich als kleines urbanes Abenteuer. Zu schauen ist nach links, nach rechts, und vorsichtshalber nochmal: nach links und rechts. Gefahren wittern im urbanen Verkehr unversehens. Demgegenüber muss doch mein Wohnort, meine Stadt, mein Dorf wie ein sicheres Refugium erscheinen, oder? Sich bewegen zu können ohne sich Gefahren aussetzen zu müssen. So wie im Wald, im Park, in der Walachei.
Dass dem nicht so ist, wird allein schon deutlich bei der Assoziation des Begriffs Verkehr. Sofort kommen Bilder einer Vielzahl von Pkw und Lkw, nach etwas Überlegen mag man auch an Busse und Eisenbahnen denken. Etwas später fällt einem die Existenz von Motorrädern ein. Deutlich länger braucht es, Rad Fahrende dem Verkehr zu zuzählen. Und an Fußgänger denkt man allenfalls zuletzt. Und ganz zuletzt bestimmt an Kinder.
Kinder sind die schwächsten Verkehrsteilnehmer
Kindern muss man als fürsorgliche:r Pädagog:in schon ganz früh ein stets defensives Verhalten beim Bewegen durch die Stadt beibringen. Schon früh beginnt die Erkenntnis, dass in Stadt oder Dorf der Bereich abseits der Bordsteinkante Lebensgefahr drohen kann. Dort ist der mächtige Verkehr, hier bin ich als Schwache:r. Der angebliche Verkehr hat Vorrang. Ich muss stets achtsam bleiben. Die Achtsamkeit der Motorisierten erscheint bloß als Hoffnung.
Mehr Informationen: Für einen kindgerechten Straßenverkehr – Kai Koeser
Nachhaltige Politik macht die Stadt wieder begehbar
Städte und Dörfer sind die Heimat von Menschen, welche sich immer noch die meiste Zeit auf ihren eigenen Beinen bewegen. Unsere Kommunen gestalten sich derzeit aber mehr als Durchfahrts- oder Parkzonen. Egal wo man sich befindet, stehen oder fahren unzählige Autos. Blechlawinen überall. Es scheint so, als sei die Stadt im Wesentlichen ein Parkplatz und ein Geflecht von schnell zu durchsausenden Verkehrsadern.
Nachhaltige Kommunalpolitik wird sich das Ziel setzen müssen, die Stadt wieder begehbar zu machen. Nicht mit PS-Zahlen hinterm Lenkrad befahrbar, sondern allenfalls am Lenker eines Fahrrads oder eines Rollators. Nicht am Rand, sondern im Zentrum des Bewegten.
Übrigens: Hundesitzer:innen wird das Bedürfnis nach einem nur scheinbar sinn- und ziellosen Durchstreifen der Stadt zu Fuß bekannt vorkommen. Man nennt es Gassi-Gehen, also durch die Gassen hin zur Grünanlage. Es ist sorgsame Pflicht dem Tier gegenüber – jeden Tag aufs Neue und auf jeden Fall mehrmals am Tag. Bei dessen Ankündigung wird es einem vorab mit heftigem Schwanzwedeln gedankt. Bliebe dieser Gang mehrmals aus, würde der Hund krank. Das wäre doch eine Idee auch für uns Bewohner einer Stadt oder eines Dorfs: Regelmäßig Gassi-Gehen – auch ohne Hund. Einfach mal die Stadt zurückerobern – zu Fuß unterwegs.
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