„Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“
Bertolt Brecht, Der gute Mensch von Sezuan
Das Virus dockt nicht nur an die gesunden Zellen des Körpers an, es infiziert auch die Gesellschaft. Es bringt schonungslos Schwächen zum Vorschein, wirkt wie ein Brandbeschleuniger alter Probleme und schafft Unvorstellbares.
Die Globalisierung wird ausgebremst. Fische kehren in die Kanäle von Venedig zurück und erstmals seit Jahrzehnten ist der Himalaya wieder aus großer Entfernung zu sehen. Die einen freuen sich über mehr Quality Time mit der Familie, die anderen ertragen singuläre Einsamkeiten.
Soziale Ungerechtigkeiten nehmen zu. Über Tierwohl wird diskutiert, während das Unwohlsein der Arbeiter*innen zu Tage tritt. Die Grenzen sind dicht – auch für Geflüchtete. Die Digitalisierung nimmt endlich Fahrt auf. Man merkt was sie kann – und was nicht. Das bedingungslose Grundeinkommen ist wieder Thema.
Offenbar hat die Gesellschaft viele Vorerkrankungen. Auch das Immunsystem zahlreicher Kultureinrichtungen in Deutschland war schon vor dem Virus geschwächt: Sanierungsstau, Sparzwänge, gleichbleibende Zuschüsse bei steigenden Kosten – gespart wird dann an der Kunst.
Für die Kulturinstitutionen stellt der Shutdown einen noch nie da gewesenen Einschnitt dar. Die Genesung hat noch nicht begonnen, sie ist mit vielen Fragezeichen versehen – die Genesung selbst steht in Frage. Die Auswirkungen lassen sich noch überhaupt nicht abschätzen. Schon die Weltwirtschaftskrise 2008 hat erhebliche Einschnitte in der Kulturlandschaft hinterlassen.
Bereits jetzt haben einige freie Theater und Privattheater die Flügel gestreckt – national wie international, große wie kleine, wirtschaftlich- wie kunstorientierte. Es ist zu befürchten, dass Corona nicht nur ein Virus ist, das unsere Gesundheit und unser soziales Leben gefährdet, sondern auch unser gesamtes kulturelles Leben. Vom politischen Handeln – oder Nichthandeln, wird es ganz wesentlich abhängen, ob die kulturellen Institutionen, sich von diesem infektiösen Zustand jemals wieder erholen werden.
Die Schließungen und Einschränkungen mögen alternativlos gewesen sein – je länger sie andauern, desto härter werden die Verteilungskämpfe und lauter wird die Frage werden: Wer ist überhaupt wichtig genug um gerettet zu werden?
Der Kampf um die Ressourcen zeichnet sich am Horizont ab. Den Kommunen brechen Gewerbesteuereinnahmen weg. Es ist zu befürchten, dass bei der Kultur als allererstes der Rotstift ansetzen wird – in guten Zeiten kommt die Kultur meist zuletzt. Für das Programm NEUSTART KULTUR stellt die Bundesregierung nun rund eine Mrd. Euro zur Verfügung. Immerhin. Für die Rettung der Lufthansa stehen neun Mrd. bereit.
Aufrechnungen sind schwierig – immer. Doch die Kultur- und Kreativwirtschaft ist nicht nur inhaltlich bemerkenswert: „Ihr Beitrag zur volkswirtschaftlichen Gesamtleistung (Bruttowertschöpfung) in Deutschland betrug im Jahr 2018 100,5 Milliarden Euro (Anteil am BIP: 3,0 Prozent). Damit übertrifft die Kultur- und Kreativwirtschaft in Sachen Wertschöpfung inzwischen andere wichtige Branchen wie die chemische Industrie, die Energieversorger oder aber die Finanzdienstleister. Nur die Automobilindustrie erzielt mit aktuell 166,7 Milliarden Euro eine deutlich höhere Bruttowertschöpfung.“ (Quelle: Bundeswirtschaftsministerium – Branchenfokus Kultur- und Kreativwirtschaft).
Mit 1,7 Mio. Arbeitsplätzen belegt die Kunst- und Kreativwirtschaft Platz 1. Wer hätte das gedacht? Man sollte meinen die Kunst und Kultur sei – rein monetär betrachtet – ein rettenswertes Gut.
Und gesellschaftlich? Was unserer Gesellschaft wirklich wichtig ist und was nicht, darüber sollte engagiert gestritten werden. Immerhin haben in der Spielzeit 2017/2018 rund 34 Mio. Besucher den Weg ins Theater- oder Symphoniekonzert gefunden und 21,4 Mio. in der gleichen Zeit den Weg in die Fußballstadien der 1., 2. und 3. Liga.
Dennoch: Kulturschaffende, Künstler*innen und Kulturpolitiker*innen werden um den gesellschaftlichen Stellenwert der von der Krise besonders hart getroffenen Kultur mehr denn je kämpfen müssen.
Die Rettung des Kultursektors nicht zu unternehmen, käme unserer Gesellschaft teurer zu stehen. Die vergangenen Jahre haben uns eindrücklich vor Augen geführt, was die reihenweisen Schließungen von Bibliotheken, Theatern und Kultureinrichtungen in kleineren Kommunen bewirkt haben. Teilhabechancen wurden vermindert.
Mit dem Erstarken des Rechtspopulismus insbesondere in strukturschwächeren Wahlkreisen Ost- und Westdeutschlands ist die Frage der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ wieder auf die politische Agenda – und in den Koalitionsvertrag der aktuellen Legislaturperiode – gerückt. Eine weitere drohende Welle des Kulturabbaus gefährdet nichts weniger als die Demokratie.
So könnte das Virus auch noch zum Brandbeschleuniger für bzw. gegen die Demokratie werden. Kultur mag nicht auf den ersten Blick systemrelevant erscheinen – freilich trägt sie nicht unmittelbar zur Lebenserhaltung bei – aber sie ist systemrelevant für die Demokratie. Und: Sie ist Teil eines lebenswerten Lebens.
Wer hat nicht in Zeiten der häuslichen Quarantäne, der Isolation, der gesellschaftlichen Abstinenz, des Abstandes, Serien neu für sich entdeckt oder ein Buch gelesen, Musik gehört oder Filme gesehen? Woher kommt die Selbstverständlichkeit, dass dies alles immer verfügbar ist? Zur Gesundheit – zum Menschsein – gehört auch unser psychisches, soziales, wie kulturelles Wohlbefinden.
Lange war vom Bund in der Krise zum Thema Kultur nichts zu hören. Da war von Gottesdiensten, Friseuren, Fitnessstudios, Reisebüros, den Hotels und der Gastronomie die Rede – besonders wichtig scheinbar: Baumärkte und die Fußball-Bundesliga.
Ein Schelm wer an Brot und Spiele denkt. Das schmerzte die Kulturschaffenden. Kein Wort des Bedauerns – kein Wort der Zuversicht – nur Schweigen. Die Feuilletons griffen das auf. Die Kanzlerin reagierte in einem Podcast – zwei Monate nach Beginn der Krise, nach den Schließungen, die quasi einem Berufsverbot gleichkamen. Bedeutsames Ausgrenzen aus dem Diskurs.
Was macht das mit den Künstler*innen? Was macht das mit denen, die doch nur sind um etwas zu bedeuten? Was macht das mit den zumeist sensiblen Künstlerpsychen, die aus leidenschaftlichen Gründen den Beruf („Berufung“) ergriffen haben, zumeist schlecht bezahlt – zumindest schlechter als woanders – zumeist die Arbeitszeit nicht von der Freizeit trennend. Was macht das mit denen, die bis dahin auch dachten, einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten? Stehen wir vor einer kulturellen Depression? Zumindest: Es erscheint nicht erstrebenswert, da bedeutungslos?
Und wie geht es inhaltlich weiter? Mit welchem Repertoire wird an den Theatern auf diese Krise und auf die überdeutlich zu Tage getretenen Probleme reagiert? Und zuerst: Wie ist es möglich, eine Atmosphäre zu schaffen, in welcher die Besucher*innen wieder Vertrauen fassen können – nachdem sie dort zuvor offenkundig Angst haben mussten? Mit welchen Stoffen halten wir die Fähigkeit zum Mitgefühl wach, oder schaffen sie erst – die alles überwindende Empathie. Auch Unterhaltung scheint eine politische Kategorie zu werden.
Wenn der „Rechte“ neben dem „Linken“ sitzt und der „Grüne“ neben dem „Gelben“ und sie gemeinsam über den gleichen schlechten Witz lachen, dann sind sie zumindest im Zuschauerraum geeint – im Sinne des Zusammenhalts.

Gastbeitrag: Silvia Stolz
Die Autorin stammt aus Dillingen a.d. Donau und ist Absolventin des Diplomstudiengangs Dramaturgie der Ludwig-Maximilians-Universität und der Bayerischen Theaterakademie August Everding in München. Es folgte eine Weiterbildung zur Kulturmanagerin an der Leibniz Universität Hannover. Nach Stationen am Stadttheater, Privattheater, Gastspieltheater und zuletzt Landestheater in Memmingen, ist sie seit Ende 2018 Geschäftsführerin und Intendantin des Kultur- und Tagungszentrums STADEUM in Stade.
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