Für mehr Chancengleichheit: Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder

Die Ganztagsbetreuung in der Grundschule ist wichtig und richtig. Mit der Ganztagsbetreuung werden Bildungs- und Teilhabechancen von Grundschulkindern, Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie Erwerbs- und Karrieremöglichkeiten von Frauen nachhaltig und signifikant verbessert. Zu Recht ist das Thema deshalb sowohl auf Bundesebene als auch in Niedersachsen fest im Koalitionsvertrag verankert und damit klares Regierungsziel.

Grundschule Wiepenkathen in Stade, Blick Alte Dorfstraße, Offene Ganztagsschule mit freiwilliger Ganztagsbetreuung
Grundschule Wiepenkathen Bild: SPD Stade

Am 4. Juni 2020 veranstaltete die Arbeitsgemeinschaft für Bildung (AfB) der SPD Nord-Niedersachsen eine Webkonferenz zum Thema „Ganztag in der Grundschule“, in der Marja Liisa Völlers und Claudia Schüssler über den aktuellen Stand beim Thema Ganztagsbetreuung in Grundschulen berichteten und konkrete Fragen der Teilnehmer*innen beantworteten. Moderiert wurde die Webkonferenz von Dörte Liebetruth. Am Ende des Artikels haben wir weitere Informationen zu den Referentinnen zusammengefasst.

Grundschule Bockhorster Weg, Stade, Blick auf das Gebäudeensemble, Offene Ganztagsschule mit freiwilliger Ganztagsbetreuung
Grundschule Bockhorster Weg, Stade Bild: SPD Stade

Ziel: Betreuungslücken für Grundschulkinder schließen

Nachdem der Rechtsanspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in der Kindertagespflege umgesetzt wurde und seit dem 1. August 2013 gilt, hat jedes Kind ab dem vollendeten ersten Lebensjahr einen Anspruch auf diese Förderung mit dem Ziel die Bildungs- und Teilhabechancen der Kinder zu verbessern. Dieser Rechtsanspruch war aufgrund der föderalen Struktur Deutschlands nur durch ein gemeinsames Vorgehen von Bund, Ländern und Kommunen möglich. Der Bund unterstützt hierbei insbesondere finanziell.

Das Problem: Mit der Einschulung erlischt der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung und Familien werden vor besondere Herausforderungen gestellt.

Bei fehlenden Möglichkeiten der Kinderbetreuung sitzen Eltern zwangsläufig zwischen den Stühlen und müssen permanent zwischen Familie und Beruf abwägen. In der Regel geht dies zu Lasten des Berufslebens mit unmittelbaren Benachteiligungen bei Verdienst und Karriere, geringerem Selbstwertgefühl bis hin zu Einbußen bei der späteren Rentenzahlung.

Die Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder ist ein entscheidender Baustein für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern im Arbeitsleben und die Vermeidung von Altersarmut. 

Pestalozzi Grundschule, Stade, Blick über den Schulhof, Offene Ganztagsschule mit freiwilliger Ganztagsbetreuung
Pestalozzi Grundschule, Stade – Blick über den Schulhof Bild: SPD Stade

Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder bis 2025

Um diese Betreuungslücke zu schließen soll bis 2025 ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder geschaffen werden. Für die Investitionen in den Ganztagsausbau, beispielsweise Mensen oder mehr Räumlichkeiten, stellt der Bund in der aktuellen Legislaturperiode (2017-2021) zwei Milliarden Euro zur Verfügung. Die Verteilung der Gelder ist derzeit noch offen, in der Regel wird jedoch der sogenannte Königsteiner Schlüssel zugrunde gelegt. Der Königsteiner Schlüssel wird jährlich neu ermittelt und basiert auf den jeweiligen Steuereinnahmen (2/3 Anteil bei der Bewertung) und der Bevölkerungszahl (1/3 Anteil bei der Bewertung) der Bundesländer des vorvorletzten Steuerjahres  – für das Jahr 2020 gilt der Königsteiner Schlüssel auf Basis der Daten des Jahres 2018.

Demnach würden rund 9,4% der 2 Milliarden Euro Bundesmittel, also rund 190 Millionen Euro, auf das Land Niedersachsen entfallen – zuzüglich weiterer Finanzmittel, die das Land voraussichtlich selbst beisteuern muss.

Montessori Grundschule Altländer Viertel Stade, Blick über den Schulhof, Teilgebundene Ganztagsschule mit teilweise verpflichtender Ganztagsbetreuung
Montessori Grundschule Altländer Viertel Stade – Blick über den Schulhof Bild: SPD Stade

Was bedeutet „Ganztagsbetreuung“?

Ziel ist eine ganztägige Betreuung von Grundschüler*innen bis 2025 mit mindestens acht Stunden an fünf Tagen in der Woche und einer Schließzeit von höchstens vier Wochen im Jahr.

Um dem Ziel der Chancengleichheit für alle Kinder gerecht zu werden, genießt die Festschreibung einer ordentlichen pädagogischen Betreuung oberste Priorität. Die Infrastruktur zur Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern wurde in den letzten Jahren bereits ausgebaut. Allerdings stellt ein Gutachten zur Ganztagsbetreuung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag des Bundesfamilienministeriums fest, dass von derzeit 2,9 Millionen Grundschulkindern unter elf Jahren etwa 50 Prozent ganztägig in Grundschulen und Horten betreut wird. Dem gegenüber steht ein Bedarf von 73 Prozent.

Grundschule am Burggraben, Stade, Innenstadt, ohne Angebot einer Ganztagsbetreuung
Grundschule am Burggraben in der Stader Innenstadt Bild: SPD Stade

Welche Vorteile hat die Ganztagsbetreuung?

Das Gutachten zur Ganztagsbetreuung kommt zu dem Ergebnis, dass die Erwerbstätigkeit und das Erwerbsvolumen von Müttern signifikant steigt und Familien aufgrund höherer Einkommen seltener auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Der Ausbau ermöglicht insbesondere Frauen, überhaupt erwerbstätig zu sein oder ihre Arbeitszeit aufstocken.

Neben den Vorteilen für Erwachsene, profitieren insbesondere die Kinder von einer verlässlichen ganztägigen Betreuung. Die Kinder werden in ihrer sozialen, emotionalen und körperlichen Entwicklung unterstützt und können außerhalb der Unterrichtszeit individuell gefördert werden. Motivation und Selbstwertgefühl der Kinder werden nachhaltig verbessert.

Während der Veranstaltung beschreibt die Schulleiterin einer Gesamtschule mit verbindlicher Ganztagsbetreuung den „rhythmisierten Schultag“ als wesentlichen Erfolgsfaktor.  Der rhythmisierte Schultag bedeutet hierbei ein erweitertes Angebot nach dem Schulunterricht mit erweiterten Angeboten aus Freizeit, Lerngruppen und Arbeitsgemeinschaften zu verschiedenen Themen. Das gemeinsame Mittagessen hat hierbei eine wichtige soziale Dimension, bei der Pädagogen und Kinder – abseits vom Stress durch Lernziele und Schulnoten – auf einer anderen Ebene kommunizieren und Zugang zueinander finden.

Grundschule Hahle, Stade, Blick über den Schulhof mit Verkehrslehrgarten, teilgebundene Ganztagsschule mit teilweise verpflichtender Ganztagsbetreuung
Grundschule Hahle, Stade – Blick über den Schulhof mit Verkehrslehrgarten Bild: SPD Stade

Das Beispiel macht deutlich: Die Ganztagsbetreuung ist ein wichtig für Chancengleichheit und Bildungserfolg, unabhängig von der sozialen Herkunft.

Die Ganztagsbetreuung kann sich also zu einer echten Win-Win-Situation für Familien und Staat entwickeln:

  1. Familien gewinnen durch bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
  2. Kinder – insbesondere aus schwierigen sozialen Milieus oder mit Migrationshintergrund – haben bessere Chancen auf Bildung und Teilhabe.
  3. Frauen haben bessere Chancen bei Karriere und Verdienst.
  4. Staat und Sozialversicherungen erzielen deutliche Mehreinnahmen, gleichzeitig werden Sozialausgaben, z.B. aufgrund niedriger Renten, vermieden. Dieser Effekt leistet somit langfristig einen entscheidenden Beitrag zur Refinanzierung der Kosten für die Ganztagsbetreuung.
Grundschule Hagen, Stade, Blick auf den Haupteingang, ohne Angebot einer Ganztagsbetreuung
Grundschule Hagen – Blick auf den Haupteingang Bild: SPD Stade

Warum gibt es den Rechtsanspruch nicht sofort?

Bei der Umsetzung des Rechtsanspruchs für Ganztagsbetreuung ist ein gemeinsames Vorgehen von Bund, Ländern und Kommunen entscheidend. Die Herausforderungen sind groß: In einigen Bundesländern wie Brandenburg, Hamburg, Thüringen oder Sachsen-Anhalt besteht bereits ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung. Dabei gibt es unterschiedliche Betreuungsangebote, wie Horte oder Ganztagsschulen, und Betreuungszeiten. Gleichzeitig gibt es regional teils noch große Vorbehalte gegen das Konzept der (schulischen) Ganztagsbetreuung.

Auf Ebene des Bundes – koordiniert durch Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) – sind zunächst drei Schritte notwendig:

  1. Die Umsetzung des „Ganztagsfinanzierungsgesetzes“, welches das Sondervermögen „Ausbau ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder im Grundschulalter“ regelt. Dieses Gesetz wurde am 3. März 2020 in erster Lesung im Bundestag beraten, die zweite und dritte Lesung im Rahmen des normalen Gesetzgebungsverfahrens stehen noch aus.
  2. Darüber hinaus ist eine Gesetzesänderung im Sozialgesetzbuch 8 (SGB 8) erforderlich, welche den eigentlichen Rechtsanspruch für Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder festschreibt.
  3. Die Festschreibung der Verwendung der Gelder aus dem Sondervermögen muss schließlich ebenfalls in einem neuen Gesetz geregelt werden. Die Details dieses Gesetzes werden derzeit erarbeitet.

Der Bund kann zwar den Rechtsanspruch festschreiben, diesem muss dann jedoch noch der Bundesrat zustimmen.

Die konkrete Umsetzung von Maßnahmen obliegt dann allein den einzelnen Bundesländern. Für Niedersachsen hat die SPD-geführte Koalition unter Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) den festen Willen zum Ausbau der Ganztagsschulen im Koalitionsvertrag festgeschrieben.

Grundschule Campe, Stade, Rückseite und Blick über den Schulhof mit Klettergerüst, Offene Ganztagsschule mit freiwilliger Ganztagsbetreuung
Grundschule Campe, Stade – Blick über den Schulhof mit Klettergerüst Bild: SPD Stade

Was ist der Unterschied zwischen offener und vollgebundener Ganztagsschule?

In Niedersachsen gibt es grundsätzlich drei Formen der Ganztagsschule mit Ganztagsbetreuung:

Offene Ganztagsschule – zum Teil auch verlässliche Grundschule genannt: Die Teilnahme der Kinder erfolgt freiwillig.
In Stade gehören dazu:

  • Grundschule am Fleth in Bützfleth,
  • Grundschule Campe,
  • Grundschule Wiepenkathen,
  • Grundschule Bockhorster Weg sowie
  • Pestalozzi-Grundschule mit einem zusätzlichen kostenpflichtigen Hort-Angebot.

Teilgebundene Ganztagsschule: Es gibt zum Teil verpflichtende Angebote, an denen alle Kinder teilnehmen müssen.
Hierzu zählen in Stade:

  • Grundschule Hahle sowie
  • Montessori-Grundschule Altländer Viertel.

Vollgebundene (verbindliche) Ganztagsschule: Alle Angebote der Schule sind für alle Kinder verpflichtend. Dieses Modell gibt es in Stade bisher nicht.

Ohne Ganztagsbetreuung sind in Stade derzeit:

  • Grundschule Ottenbeck,
  • Grundschule am Burggraben in der Innenstadt,
  • Grundschule Haddorf sowie
  • Grundschule Hagen.

Um regionalen Bedürfnissen gerecht zu werden, erfolgt die Umsetzung der Ganztagsbetreuung in den Grundschulen gemeinsam durch Schulträger, für Stade ist dies die Hansestadt Stade, und die Eltern. Das Konzept der Ganztagsbetreuung kann dabei frei vor Ort entsprechend der Anforderungen und Möglichkeiten bestimmt werden.

Grundschule am Fleth in Bützfleth, Blick über den Schulhof, Offene Ganztagsschule mit freiwilliger Ganztagsbetreuung
Grundschule am Fleth in Bützfleth – Blick über den Schulhof Bild: SPD Stade

Warum geht die SPD nicht offensiver und verpflichtender beim Thema Ganztagsschule vor?

Die Chancengleichheit für alle Kinder ist ein Grundanspruch der Sozialdemokratie. 

Auf dem Weg dahin sollen möglichst alle Menschen mitgenommen werden, auch die bisherigen Skeptiker sollen von den Vorteilen und Chancen der Ganztagsbetreuung überzeugt werden. Weiterhin müssen landesweit passenden Regelungen gefunden werden, die gleichermaßen regionale Unterschiede berücksichtigen und die Kommunen finanziell nicht überfordert.

Die bisher in Niedersachsen eingeführte Ganztagsschule für Grundschulkinder von Montag bis Donnerstag ist ein Zwischenschritt auf dem Weg zum Rechtsanspruch und zur echten Ganztagsbetreuung, also acht Stunden an fünf Tagen in der Woche. Die Ausweitung der Ganztagsbetreuung muss nachhaltig finanziert sein – trotz absehbar geringerer Haushaltsbudgets aufgrund der Corona-Krise – und vor allem durch verfügbares pädagogisch ausgebildetes Betreuungspersonal sichergestellt sein.

Für den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder könnte ein stufenweises Vorgehen – also ein rollierender Rechtsanspruch nach Jahrgangsstufen – die Lösung für die Herausforderungen bei Finanzierung und Betreuung sein.

Grundschule Ottenbeck, Hauptgebäude, Stade, ohne Angebot einer Ganztagsbetreuung
Grundschule Ottenbeck – Hauptgebäude Bild: SPD Stade

 

Über die Referentinnen:

Marja Liisa Völlers, MdB (Mitglied des Deutschen Bundestages):
Marja-Liisa Völlers ist SPD-Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis Niemburg – Schaumburg. Ihre Themen sind digitale Bildung und Digitalpakt, frühkindliche Bildung, Ganztagsbetreuung und Ganztagsschulprogramm sowie Inklusion. Bis zu ihrem Einzug in den Bundestag hat sie als Gymnasiallehrerin Englisch und Geschichte an einer Integrierten Gesamtschule unterrichtet.
Mehr Informationen zu Marja Liisa Völlers

Claudia Schüssler, MdL (Mitglied des Landtages):
Claudia Schüssler ist SPD-Landtagsabgeordnete für den Wahlkreis Barsinghausen – Gehrden – Seelze, im Kultusausschuss zuständig für Ganztag und Grundschule. Sie ist in Barsinghausen Vorsitzende des Stadtrates und dort unter Anderem im Schulausschuss tätig.
Mehr Informationen zu Claudia Schüssler

Dörte Liebetruth, MdL (Mitglied des Landtages):
Dörte Liebetruth ist direkt gewählte Abgeordnete des Landkreises Verden und im Verdener Kreistag ebenfalls im Schulausschuss aktiv.
Mehr Informationen zu Dörte Liebetruth

 

Autor: Christian Häckl

Christian Häckl