Wohin führt uns die Corona-Krise?
Die aktuelle Corona-Pandemie lässt es so deutlich werden, wie keine Krise zuvor: Unsere Gesellschaft lebt in einem ständigen Widerstreit zwischen Egoismus und Solidarität:
„Wenn ich nicht so stark vom Virus betroffen bin und eine Gesichtsmaske nur die anderen schützt, warum soll ich dann eine tragen? Die ganzen Maßnahmen schränken ohnehin meine persönlichen Freiheiten viel zu sehr ein.“ – „Eine weitere Ausbreitung des Virus können wir nur verhindern und damit die Schwächsten in unserer Gesellschaft schützen, wenn wir alle an einem Strang ziehen und die von der Politik verordneten Maßnahmen strikt einhalten.“
Egoismus und Solidarität prallen hier aufeinander, und die Politik sieht sich in der Pflicht, immer wieder das richtige Gleichgewicht zwischen beiden Polen in unserer Gesellschaft zu finden. Dabei stellt sich die Frage: Ist ein „gesunder“ Egoismus nun gut oder schlecht und brauchen wir in unserer Gesellschaft mehr Solidarität oder doch eher weniger?
Egoismus als „Triebfeder“ der Evolution
Die Mechanismen der Evolution fußen in erster Linie auf dem Egoismus. Er ist das bestimmende Element, mit dem sich einzelne Lebewesen gegenüber anderen durchsetzen und auf diese Weise die Existenz der ganzen Art sichern. Die Natur, als Austragungsort der Evolution, ist dabei weder lieblich noch süß, sondern brutal und grausam, selbst wenn sie in dieser Unerbittlichkeit auch immer wieder von Neuem eine verschwenderische Schönheit hervorbringt. Das, was hinter dieser Schönheit jeden Tag stattfindet, ist ein gnadenloser Kampf ums Überleben.
Ist nun in diesem Überlebenskampf das Stärkste und Brutalste immer auch das Beste oder das Ergebnis im Ausleseprozess doch eher zufällig? Würde „Einstein“ sich durchsetzen oder der einfältige „Schrotkopf“ mit der Keule? Wo würde die Evolution hinführen, wenn Vernunft und gegenseitige Rücksichtnahme die bestimmenden Elemente wären?
Solidarität als „Kitt“ der Gesellschaft
Der Mensch, ursprünglich gefangen in den Mechanismen der Evolution, vollzog im Laufe seiner Geschichte eine erstaunliche Entwicklung. Er baute eine solidarische Gemeinschaft auf mit einem vernunftgeprägten Sozialgefüge und einem klaren Rechtssystem, das den Einzelnen vor der Willkür des Anderen schützt – ein Miteinander, das ihn vom täglichen Überlebenskampf befreit.
Die Arbeitsteilung führte dazu, dass er sich auch anderen Aufgaben und Ideen widmen konnte. Dadurch gelangen ihm zahllose Errungenschaften im technischen und medizinischen Bereich, mit denen er sich weit über die Natur erhob – wodurch er inzwischen aber auch in die Lage versetzt wurde, einen größeren Einfluss auf die Natur auszuüben, als es einer Spezies im Gefüge der Natur je zugekommen ist.
Auf diese Weise entfernte sich der Mensch von dem stetigen Prozess der Evolution und setzte gleichsam ein Experiment in Gang, das ihm die Möglichkeit gibt, sich das Ergebnis einer von Solidarität geprägten „Evolution“ vor Augen zu führen.
Befreiung von der Evolution – Fluch oder Segen?
Der Mensch baute sich stabile Häuser und gab sich damit einen dauerhaften Schutz vor Wind, Wetter und extremen Temperaturen, schuf vielfältige Fortbewegungsmittel und eine funktionierende Infrastruktur. Auf diese Weise befreite er sich von den Unbilden der Natur und dem gnadenlosen Ausleseprozess der Evolution.
Diese menschlichen Errungenschaften kehren sich nun aktuell vermehrt gegen den Menschen, da sie nicht immer im Einklang mit der Natur stehen und zunehmend zu einer existentiellen Bedrohung für den Menschen werden. Zu nennen wären hier die Verschwendung nur begrenzt verfügbarer Ressourcen sowie die Belastung der Umwelt mit zerstörerischen Schadstoffen und gigantischen Müllbergen unterschiedlichster Art.
Ebenso ist hier ein über Jahrzehnte aufgebautes militärisches Potential anzuführen, von dem zwar durchaus eine friedensstiftende Wirkung ausgeht, das aber gleichzeitig eine Bedrohung für den Fortbestand der gesamten Menschheit darstellt, sobald es in falsche Hände gerät oder zum Instrument einer eskalierenden Politik erhoben wird.
Ganz aktuell kommen militärische Systeme in den Blick, die in einer immer ausgefeilteren Weise Menschen „liquidieren“ unter Schonung der eigenen Soldaten, dabei aber jegliche Rechtsstaatlichkeit außer Kraft setzen.
Gedacht ist auch an die Fortschritte der Medizin. Einerseits führen sie in ihrer lebenserhaltenden Ausrichtung immer mehr zu einer Durchbrechung des evolutionären „Ausleseprozesses“, werfen aber andererseits z.B. durch Gesellschaftsüberalterung und Überbevölkerung verstärkt soziale Probleme existentiellen Ausmaßes auf.
Nicht zuletzt gibt sich der Mensch mit neueren Entwicklungen, z.B. der Gentechnik, Instrumente an die Hand, durch die er im positivsten Sinne Einfluss auf die brutalen Mechanismen der Evolution ausüben, aber auch ganz schnell ethische Grenzen überschreiten kann mit nicht absehbaren Folgen für die gesamte Menschheit.
Die Rolle des Egoismus in einer solidarischen Gesellschaft
Auch wenn der Egoismus im Rahmen der Evolution die Funktion der Stärkung und Erhaltung einer Spezies einnahm und auch immer noch einnimmt, so kehrt sich diese Funktion beim Menschen aktuell eher um. In einem gesellschaftlichen Sozialgefüge unserer Zeit führt der Egoismus verstärkt dazu, dass für den Menschen überhaupt erst existentielle Probleme entstehen.
Zu nennen wäre hier der „Nord-Süd-Konflikt“, bei dem die Industriestaaten durch ihre dominierende Stellung im Welthandel in vielen Entwicklungsländern mitverantwortlich sind für Hunger, Elend und aktuell einen zunehmenden „Ausverkauf“ von Agrarflächen für die Versorgung allein der eigenen Bevölkerung dieser Industriestaaten, die den hungernden Menschen vor Ort dann fehlen. Inzwischen hat dies eine Flüchtlingswelle ausgelöst, mit der die Industriestaaten unvermittelt konfrontiert werden.
Gedacht ist auch an die Treibhausgase mit ihrer zerstörerischen Wirkung. Leidtragende sind wieder in erster Linie die Entwicklungsländer durch vermehrt auftretende Naturkatastrophen und einen allmählich ansteigenden Meeresspiegel. Allerdings werden auch die Hauptverursacher zunehmend mit den Folgen ihres Handelns konfrontiert, so dass über den Egoismus gesteuert auch positive Denkprozesse in Gang gesetzt werden könnten.
Nicht zuletzt sind hier die internationalen Finanzmärkte anzuführen, die 2008/2009 durch ihren hemmungslosen Egoismus die Weltwirtschaft und ganze Staaten an den Rand des Zusammenbruchs geführt haben und die bis heute von der Politik nicht eingefangen wurden. Sicherlich ist ein gewisses Maß an Egoismus als Steuerungselement für einen Markt sinnvoll und hat sich gegenüber einer zentralen Planwirtschaft in überzeugender Weise durchgesetzt. Dennoch entfaltet ein Egoismus ohne Regeln in einer solidarischen Gemeinschaft offensichtlich eher eine zerstörerische Kraft.
Egoismus oder Solidarität – welchen Weg gehen wir?
Es hat sich gezeigt, dass der solidarische Gedanke zwischen den Menschen eine Befreiung vom täglichen Überlebenskampf der Evolution bedeutete, der die existenzsichernden Entwicklungen der Menschheit überhaupt erst ermöglichte. Allerdings werfen diese Entwicklungen aktuell neue Probleme auf, die in ihrem Ausmaß nun wiederum eine existenzielle Bedrohung für die Menschheit darstellen.
Aufgrund der Komplexität dieser Probleme können von Egoismus geprägte Einzellösungen die Probleme als Ganzes nicht erfassen und sind somit als Lösungen ungeeignet. So sehr der Egoismus in unserer Gesellschaft in kleineren Einheiten immer wieder eine treibende Kraft sein kann, so sehr entfaltet er in großen Zusammenhängen eher eine zerstörerische Wirkung, da er sich naturgemäß gegen die Interessen der Mehrheit richtet.
Wenn wir den Klimawandel, die Flüchtlingsfrage oder die Corona-Krise betrachten, so ist ein gemeinschaftliches Vorgehen gefragt und damit der Gedanke der Solidarität. Nur wenn die Weltgemeinschaft es schafft, alle ihre Kräfte zu bündeln, werden wir die aktuellen weltumspannenden Herausforderungen bewältigen.
Nicht der Egoismus hat den Menschen weitergebracht und ihn in die Lage versetzt, seine Probleme zu lösen, sondern gerade die Überwindung des Egoismus und das Hinwenden zum gemeinschaftlichen Handeln im Zeichen der Solidarität.
Ihre
Sigrid Richter