Der 1. Mai als Protest- und Gedenktag
Vor 130 Jahren wurde zum ersten Mal der 1. Mai als Protest- und Gedenktag, als „Kampftag der Arbeiterbewegung“ begangen. Dies geschah im Gedenken der Opfer eines gewaltsam niedergeschlagenen Streiks in Chicago, bei dem Dutzende Arbeiter auf der einen und Polizisten auf der anderen Seite getötet, und mehr als 200 Arbeiter verletzt worden waren.
Gerne ziehen wir historische Parallelen. Die Deutschen führt der Blick dann häufig in die 1920er und 30er Jahre zurück. Das ist völlig nachvollziehbar. Nationalsozialismus, Holocaust, Weltkrieg, Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung, die totale Niederlage – auch moralisch – das ist das Trauma dieser Nation. Das prägt uns bis heute. Den Blick auf diese Katastrophe dürfen wir auch nie aus den Augen verlieren. Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg! Das muss über allem politischen Tun stehen. Es ist auch völlig nachvollziehbar, wenn wir unsere Zeit mit den letzten 20er Jahren vergleichen. Gefühlt jagt eine Krise die andere. Menschen werden in prekäre Beschäftigungsverhältnisse gedrängt. Rentnerinnen und Rentner holen sich nach einem arbeitsreichen Leben Essen von den Tafeln, bei denen Ehrenamtliche arbeiten. Angst vor Arbeitslosigkeit und Abstieg greifen um sich. Vieles ist unsicher geworden, das sicher schien. Und nicht zu vergessen: In unseren Parlamenten sitzen wieder Faschisten, ihre Sympathisanten und ekelhafte Trittbrettfahrer, die ihre menschenverachtenden Parolen von sich geben. Wer hätte das noch vor ein paar Jahren für möglich gehalten?

Ja! Es gibt Parallelen zu 1929. Die Vorkommnisse in Thüringen haben gezeigt, wie schnell so mancher aus dem sogenannten bürgerlichen Lager bereit ist, mit den Rechten zu paktieren, um linke Politik zu verhindern – und wenn es nur ein linker Ex-Gewerkschaftssekretär als Ministerpräsident ist, den mache als moderaten Sozi beschreiben und der beim besten Willen nicht als Bürgerschreck taugt. Das muss uns Warnung sein! Der Faschismus ist nicht tot. Er schläft nicht einmal.
Und was machen wir? Der links-grün-versiffte Block, der so gern als Feindbild heraufbeschworen wird? Was machen wir? Wir halten viel zu still? Wir ziehen uns viel zu sehr zurück in das Private? Wir leben das neue Biedermeier, mit Landlust, Baumarkt und Eigenheimidylle. Den politischen Raum, die Debatte, das Internet und die sozialen Netzwerke überlassen wir viel zu sehr ein paar lauten rechten Schreihälsen! Damit muss Schluss sein.
Von der Industriellen Revolution zur Digitalisierung
1929 endete in der Katastrophe. Aber wir haben doch schon einmal gezeigt, dass wir es besser können.
Globalisierung und Digitalisierung sind doch nicht das erste Mal, dass Wirtschaft und Gesellschaft umgegraben, in den Augen vieler komplett auf den Kopf gestellt wurden.
Ganze Landstriche in Deutschland entvölkern sich. Die Jungen ziehen weg. Ziehen der Arbeit hinterher. Die Dörfer leeren sich und veröden, auch hier bei uns macht das Menschen Angst. Das war vor 150 Jahren ganz genauso. Die Industrialisierung führte damals zu tiefgreifenden Veränderungen. Handwerker, Gesellen und Bauern verloren ihre Lebensgrundlage und zogen mit ihren Familien in die Städte. Familien und soziale Systeme wurden auseinandergerissen. Damals zog es die Menschen in die Städte, die Ballungsgebiete wuchsen rasant. Auch heute wachsen die Städte immer und immer weiter, fressen sich in die Landschaft. Gleichzeitig macht in den Dörfern alles dicht und das Dorfleben stirbt, weil die verbliebenen jungen Männer und Frauen 60 km pro Weg in die nächste große Stadt zur Arbeit pendeln und keine Zeit mehr haben für Sport- und Schützenverein, politische Arbeit in Partei oder Gewerkschaft oder das Ehrenamt in der Kirche.

In den Städten ballen sie sich dann. Stehen zu Hunderten an für eine freie Wohnung oder zahlen völlig überzogene Mieten, nur um in einem einigermaßen akzeptablen Stadtteil zu wohnen. Studierende, Auszubildende und Menschen mit kleinen Einkommen haben bald gar keine Chance mehr, eine angemessene Wohnung zu finden. Da drängen sich die Familien dann wieder auf zu wenig Raum und die Eltern schlafen auf der Klappcouch im Wohnzimmer.
Das ist noch nicht vergleichbar mit den Verhältnissen in den Arbeitervierteln des 19. Jahrhunderts. Aber wir müssen doch erkennen, dass wir Ungleichheit und Ungerechtigkeit bei weitem noch nicht überwunden haben.
Wir müssen doch sehen, dass über den Bildungserfolg eines Kindes immer noch viel zu häufig das Einkommen im Elternhaus entscheidet. Unsere Schulen sind noch lange nicht so ausgestattet, um diese Unterschiede aufzufangen.
Das hippe Startup-Unternehmen, dass seine Mitarbeiter 60 Stunden in der Woche arbeiten lässt und die Gründung eines Betriebsrates verhindert – dafür stellen sie dann einen Kicker in den Pausenraum – das ist noch nicht vergleichbar mit den ausbeuterischen Fabrikanten, die Männer, Frauen und Kinder geschunden haben.
So wie die Industrielle Revolution einst Umwelt, Leben und Arbeit tiefgreifend verändert haben, so wirken heute Klimawandel, Globalisierung und Digitalisierung. Jetzt bedienen wir nicht mehr nur Maschinen, auf deren Tempo wir keinen Einfluss haben. Jetzt arbeiten die Maschinen zum Teil schon ohne unser Zutun. Wurden die Arbeiterinnen und Arbeiter damals zum kleinen Rädchen im industriellen Getriebe, so wird das weltweite Laufwerk mit Lieferketten zwischen Stade, Houston und China immer komplizierter und unüberschaubarer. Der einzelne Mensch scheint immer unwichtiger im großen Ganzen. Im 19. Jahrhundert haben die Fabrikschornsteine unsere eigene Luft verpestet und das Leben in den Ballungsräumen unerträglich gemacht. Jetzt bedroht uns ein weltweiter Klimawandel, dessen Auswirkungen wir mit Dürresommern und weltweiten Fluchtbewegungen doch längst spüren. Damals wurden die Industriebarone immer und immer reicher, während die Arbeiter und ihre Familien im Elend hausten und hungerten. Und auch heute wird die Schere zwischen Arm und Reich wieder größer. Die einen kriegen immer größere Boni hinterhergeschmissen, während die anderen mit Mindestlohn leben und um ihre Grundrente benagen müssen.
Die Antwort ist Solidarität
Die Antwort darauf darf aber nicht die von 1929 oder 1933 sein: den „Anderen“, den Ausländern, Juden oder sonst wem die Schuld zu geben. Die Antwort auf unsere Probleme ist vielmehr am 1. Mai 1890 zu finden, als sich weltweit Arbeiterinnen und Arbeiter miteinander solidarisiert haben. Ihre Antwort waren die Arbeiterbildungsvereine, die Arbeiterwohlfahrtsverbände, die Arbeiterbildungsvereine, Genossenschaften, die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften! Ihre Antwort war Solidarität!
Das allgemeine Wahlrecht, das Recht auf Vereinsbildung, das Versammlungsrecht, das Streikrecht, „fairer Lohn für faire Arbeit“, Mindestlöhne, Tarifverträge, der Achtstundentag und die Fünftagewoche, Arbeitsschutz, Kündigungsschutz, Kranken- und Sozialversicherung – all das haben wir gemeinsam erstritten und erkämpft. All das scheint erreicht. Aber davon ist doch nichts sicher. Man hört sie doch jetzt schon wieder die Stimmen.
In meiner Zeit als Betriebsrat hat mir mein Vorgesetzter mal gesagt: „Mieter und Arbeitnehmer haben in Deutschland viel zu viele Rechte.“ Und das war lange vor irgendeiner Krise. Warten wir mal ab, was da so kommt in nächster Zeit…

Der Druck von oben wird zunehmen. Das ist sicher. Da wird dann ein bisschen an der Mitbestimmung gegraben oder am Kündigungsschutz. Da wird der Mindestlohn irgendwie umgangen und die Grundrente herausgezögert… Das ist sowas von sicher. Unsere Antwort darauf kann nur sein: Solidarität! Solidarität hier bei uns! Solidarität in Europa! Solidarität weltweit! Nur gemeinsam können wir die hart erkämpften Rechte bewahren, an denen so mache gerne sägen würde. Nur gemeinsam können wir unser Leben und Arbeiten, unsere Zukunft gestalten!
Dafür steht der 1. Mai 1890, als sich Arbeiterinnen und Arbeiter weltweit solidarisierten. Dafür steht der 1. Mai seitdem. Dafür steht der 1. Mai auch in diesem Jahr.
Gemeinsam in die neue Zeit
Blicken wir also nicht auf das, was uns trennt. Auf das, wo es schiefgelaufen ist. Auf die Rückschläge. Blicken wir auf das, was uns eint. Auf unsere gemeinsame Geschichte. Auf das, was wir gemeinsam erreicht haben. Auf unsere gemeinsamen Ziele. Auf unsere gemeinsamen Werte.
Solidarisch ist man nicht alleine! Das zeigen wir gerade! Gemeinsam und solidarisch können wir sie gestalten, die Zukunft, da kann sie kommen, die neue Zeit!
Lasst es uns also anpacken. Gemeinsam. Mit starken Gewerkschaften und einer vernünftigen Politik. Und allen anderen können wir nur zurufen: Kommt mit! Macht mit! Tretet ein in die Gewerkschaften, dort könnt Ihr für Eure Rechte streiten. Tretet ein in die Sozialverbände und Vereine und macht die Welt gerechter. Kommt in die Parteien – am besten natürlich in die SPD – und lasst Euch wählen und gestaltet Eure Gemeinde und Land mit. Geht wählen!
Solidarisch ist man nicht alleine! Dafür steht der 1. Mai seit 130 Jahren. Dafür stehen wir gemeinsam! Wenn wir schreiten Seit an Seit, dann zieht sie mit uns die neue Zeit!
Glück auf!
Kai Koeser